Lamberts Tacheles
 

Auf der Suche nach dem Kontext

16. November 2023

Skandale gab es schon immer. Auch die Art von Skandalen, die in kürzester Zeit ganze Karrieren geschreddert haben. Das ist also kein Phänomen der digitalen Neuzeit. Und trotzdem haben Skandale und "Skandälchen" heute eine andere Qualität. Der gemeine Mob ist heute digital vernetzt! Alles kann sich verbreiten wie das sprichwörtliche „Lauffeuer“.

Früher gab es den Spruch „noch bevor die Druckerschwärze trocken war“, um das schnelle Ausbreiten einer Meldung zu unterstreichen. Ein antiquierter, völlig überholter Satz, wenn man die Geschwindigkeit bedenkt, in der sich Neuigkeiten heute verbreiten können. Gedruckte Medien sind heute nur noch ein vergangenes Zeugnis für Nostalgiker.

Skandale gehen heute meist von der sogenannten „woken Bubble“ aus, deren Anhänger und Anhängerinnen es sich zur Aufgabe gemacht haben, sich für Minderheiten einzusetzen. Erstmal ist ein löblicher und unterstützenswerter Gedanke. Was könnte auch falsch daran sein? Da geht es um Sprache, kulturelle Aneignungen, das Ausgleichen von Geschlechterungerechtigkeiten, um Satire, Umweltthemen, Tierschutz oder direkt die Rettung des Klimas. Themen gibt es derer viele und es mangelte in den vergangenen Jahren auch nie an Auseinandersetzungen.

Aktueller Stand des Wahnsinns: Vor Ausgaben der „Familie Heinz Becker“, oder alten Filmen von Otto Waalkes, werden inzwischen „Warnhinweise“ gezeigt, die den Humor der damaligen Zeit „erklären“, damit klar ist, dass man diesen Humor so heute nicht mehr machen würde. „Heinz Becker“-Darsteller Gerd Dudenhöfer sagte dazu im Interview mit Merkur.de: „ Meine Geschichten um die Figur Heinz Becker waren schon immer Satire, die polarisierte. Und ich denke: Vor Satire sollte nicht gewarnt werden, sondern es sollte dazu aufgemuntert werden, sich mit Satire auseinander zu setzen. Denn diese symbolisiert den momentanen ‚Zustand‘ einer Gesellschaft und am Beispiel der alten Fernsehsendungen auch den damaligen Zeitgeist“. Recht hat er. Die Rolle des „Heinz Becker“ war (auch) auf solche Provokationen angelegt. Becker war und ist ein leicht dümmlicher Patriarch, der das Rollenbild der Wirtschaftswunderzeit verkörperte. In einem Sketch verwendete er das Wort „Neger“. Vor diesem Begriff muss man heute eben „warnen“…

Von diesen und ähnlichen Beispielen könnte man heute sicher unzählige nennen. Es bleibt am Ende immer der Kontext. Vor wenigen Wochen wurde der bayerische Vize-Ministerpräsident Hubert Aiwanger durch die Medien gezerrt, weil er (mit 15 Jahren) ein antisemitisches Flugblatt verbreitet haben und eine Ausgabe von „Mein Kampf“ in der Schultasche dabei gehabt haben soll. Sicherlich wird Aiwanger auch heute noch streng konservativ sein und vermutlich ist ihm auch eine gewisse Nähe zur politischen Rechten nicht fern. Aber ihn auf Vorkommnisse zu reduzieren, die (mutmaßlich) 1983, in seinen Teenagerjahren, stattfanden, halte ich doch für etwas befremdlich.

Als man im tiefen Mittelalter am Pranger stand, damit die ganze Stadtbevölkerung sehen konnte, was man für ein krimineller Wicht war, hatte der Mob die Möglichkeit, seine Verachtung physisch auszudrücken. Heute findet der Pranger digital statt und ist ungleich mächtiger. Jeder von uns trägt einen Teil dieses digitalen Prangers in der Tasche – unser Smartphone.

Die digitale Welt hat die Dynamik von Skandalen verändert. Was früher Wochen brauchte, um sich zu verbreiten, erreicht heute in Sekunden die ganze Welt. Diese Geschwindigkeit und Reichweite sind beängstigend, denn sie lassen wenig Raum für Kontext und differenzierte Betrachtungen. Es ist einfach, jemanden online zu verurteilen, ohne die gesamte Geschichte zu kennen oder zu verstehen.

Ein weiteres Problem ist der Verlust der Verhältnismäßigkeit. Wenn ein historischer Sketch mit heutigen Maßstäben beurteilt wird, missachten wir den kulturellen und historischen Kontext, in dem er entstanden ist. Das führt zu einer Art retroaktiven Zensur, die die Vergangenheit durch die Brille der Gegenwart betrachtet, ohne ihre Einzigartigkeit und ihre Lehren anzuerkennen. Das Verständnis für die Evolution der gesellschaftlichen Normen und Werte geht dadurch verloren.

Bezogen auf den Fall von Hubert Aiwanger ist es wichtig, zwischen jugendlicher Unwissenheit und erwachsener Überzeugung zu unterscheiden. Menschen ändern sich, lernen und entwickeln sich weiter. Eine Handlung aus der Jugend als Maßstab für den Charakter einer erwachsenen Person zu nehmen, ignoriert die Möglichkeit von Wachstum und Veränderung. Das bedeutet nicht, dass frühere Fehler ignoriert werden sollten, aber sie sollten im Kontext der gesamten Lebensgeschichte einer Person betrachtet werden.

Die sozialen Medien und die digitale Welt haben uns in ein Zeitalter geführt, in dem Informationen und Meinungen überfluten und oft ohne tiefere Analyse oder Verständnis verbreitet werden. Dies führt zu einem Mangel an Nuancen und einer Kultur, in der schnelle Urteile und Verurteilungen die Norm sind. Es ist an der Zeit, dass wir lernen, Informationen kritisch zu hinterfragen und den Kontext zu berücksichtigen, bevor wir Urteile fällen.

Abschließend lässt sich sagen, dass unsere digitale Gesellschaft eine neue Form der Verantwortung erfordert – die Verantwortung, Informationen nicht blind zu teilen, sondern sie kritisch zu prüfen und den Kontext zu berücksichtigen. Nur so können wir eine gerechtere und verständnisvollere Gesellschaft schaffen, in der Menschen nicht für die Fehler ihrer Vergangenheit oder für Missverständnisse gebrandmarkt werden, die aus dem Kontext gerissen wurden.


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