Lamberts Tacheles
 

Dichter, Denker & Konsum

24. April 2011

Der westliche Strudel und seine Alternativen

Man kennt dieses Gefühl. Der Gang über eine Sanddüne und der Blick auf die Weiten des Meeres. Einige kennen auch diesen unbeschreiblichen Moment, wenn ein neues Leben das Licht der Welt erblickt, dessen Weg man über neun Monate verfolgt hat. Oder dieses wahnsinnige Kribbeln während des ersten Kusses. Diese Eindrücke vereint eine Gemeinsamkeit - sie sind kostenlos! Kein Geld ist nötig, um sie erleben zu dürfen, kaum Anstrengung erforderlich, um sie fest in seine Erinnerungen brennen zu können.

Und obwohl dies so ist, streben wir immer nach anderen "Reichtümern". Wir wollen bessere Autos, größere Häuser, den längeren Urlaub und das besser ausgestattete Handy. Nach der Geburt des ersten Kindes wollen wir diesem Erdenbürger immer mehr bieten, geraten immer weiter in die Schuldenfalle und arbeiten mehr, um die Schulden wieder abarbeiten zu können. Viele von uns befinden sich in diesem "Konsumstrudel" und sind damit gefangen im eigenen Lebensentwurf. Das Resultat sind psychische und physische Probleme, deren Schuld wir selbstverständlich in der Kindheit oder in anderen Dingen suchen und auch meist finden.

Über die Osterfeiertage sah ich den Film "Die fetten Jahre sind vorbei" - ein Werk des österreichischen Regisseurs Hans Weingärtner. Der Spielfilm mit Daniel Brühl und Julia Jentsch hält der westlichen Konsumgesellschaft den Spiegel vor, zeigt aber keine konkreten Alternativen. Und dabei lägen diese doch auf der Hand. Benannte man die Alternative ja sogar selbst als Alternativbewegung.

Filme wie dieser regen auch mich zum Denken an. In beiden "Lebensmodellen" bin ich irgendwie aufgewachsen und bis heute nicht einig, welches das richtige Model ist. Völker, die noch ursprünglich und auf das Wesentliche reduziert leben, werden von unserer Gesellschaft gerne als "unterentwickelt" und damit als "Entwicklungsländer" bezeichnet. Doch ich habe mich schon als Kind immer gefragt, warum die Kleinsten dieser Völker meist vor Lebensfreude strotzen. Ohne Spielekonsole, eigenem LCD-Fernseher und ferngesteuertem Auto rennen sie durch das Dorf und beschäftigen sich miteinander.

Wir hingegen haben im Laufe unserer vermeintlichen "Entwicklung" immer mehr den Blick auf die wesentlichen Dinge im Leben verloren. Stattdessen streben wir nach Ruhm, Reichtum und Konsum und loben dieses Leben als erfüllt. Doch die Frage ist berechtigt - sind wir tatsächlich so "frei" und unbeschwert wie wir uns fühlen? Oder befinden wir uns nicht vielmehr in einem Käfig aus Moral und äußeren Ansprüchen? Man erwartet Dinge von uns. Wir liefern uns alle einem Druck aus, der uns bereits in die Wiege gelegt wurde - oder eben auch nicht.

Meine Kindheit bestand nicht aus Konsum - im Gegenteil. Die (guten!) Möbel kamen teilweise vom Sperrmüll, ich verbrachte viel Zeit in Zelten oder in einem Schlauchboot auf der Donau und der einzige "Luxus", an den ich mich erinnern kann, war eine Single-Spülmaschine, die aber auch nur bei großen Mengen Geschirr angestellt wurde. Kurz, Konsum war bis zu meiner Pubertät geradezu verpönt! Dann folgte das Kontrastprogramm. Konsum im Überfluss. Hinein in den gewaltigen Strudel. Durch die jahrelange Abstinenz empfand ich den Strudel als paradiesischen Zustand - sogar als unbedingt erstrebenswertes Ziel.

Und jetzt? Es mehren sich die Momente, in denen man zweifelt. In denen man den Zähler auf Null stellen und von vorne beginnen möchte. Haushaltsauflösung, Schulden davon bezahlen und "zurück auf Anfang". Und ich verstehe diese Gedanken keineswegs als Flucht vor auftretenden Problemen. Sie wären eher als "Reset-Knopf" zu verstehen. Den PC, den man jahrelang vollgemüllt hat, neu aufsetzen - vielleicht mit einem abgespeckten Linux-System...

Wenn ich mit unserer Tochter (zweieinhalb Jahre) in eine S-Bahn steige, hockt sie dort mit aufgerissenen Augen auf ihrem Sitz und bestaunt die an ihr vorbeirasende Umgebung. Wenn sie in unserem Garten spielt, hört sie auf das Zwitschern der Vögel und verdonnert uns zum Schweigen, um den Gesängen noch aufmerksamer lauschen zu können. Doch auch sie wird bereits von außen geprägt. Auch sie steht am Rande des Strudels und blickt schon in das Loch. Wie verhält man sich in der Rolle der Eltern nun richtig? Gibt man ihr einen kleinen Stoß und lässt sie behütet in den Strudel fallen? Oder zeigt man mit dem Finger in diesen Strudel, nimmt sie dann sanft an der Hand und zieht sie vorsichtig von der "Gefahr" weg?

Schon die Tatsache, dass mich oft Filme und nicht etwa Bücher zum Denken anregen zeigt deutlich, wie weit ich mich schon in diesem Strudel des medialen Konsums befinde. Spielfilme wie "Instinkt", "Der Baader Meinhof Komplex" oder auch "Die fetten Jahre sind vorbei" liefern immerhin Denkanstöße und diese sind unheimlich wichtig.

Und wer wie ich auch das alternative Leben kennt, der sehnt sich oft und immer öfter nach diesem Leben zurück. Und dann wird Udo Jürgens "Ich war noch niemals in New York" fast schon zur Hymne der alternativen Bewegung. Zur Hymne für alle Strudel-Aussteiger und die trockenen Konsum-Süchtigen.


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