Lamberts Tacheles
 

Hier am Turm

27. Februar 2023

10 Jahre danach

Mittwoch, 27. Februar 2013. Auf den Tag genau vor zehn Jahren schnitt ich die am Nachmittag aufgezeichnete Pressekonferenz, die dieses Jahr entscheidend prägen sollte. Die Hannover Indians, ein lokaler Eishockeyverein, mussten Insolvenz anmelden. Dies verkündete der damalige Geschäftsführer Dirk Wroblewski erst der Presse und dann den zahlreich anwesenden Fans. Es flossen Tränen auf und vor der Bühne. Fans konnten den Umstand nicht begreifen. Dieser Verein, der ein großer Bestandteil ihres Lebens war, sollte nun Geschichte sein? Ich erinnere mich gut an die gesamte Stimmung der Veranstaltung(en). Es war eine Mischung aus Trauer und enormem Kampfeswillen. Mir imponierte besonders der Geschäftsführer selbst. Unabhängig von der Frage der Schuld. Da saß ein Kaufmann, der vom Fan zum Funktionär wurde und der jetzt verkünden musste, dass er (sicher nicht alleine) diesen Verein an die Wand gefahren hat. Und seine Tränen waren echt. Das konnte man deutlich hören. Dieser Mensch saß dort nackt. Das beeindruckte mich enorm. Dazu kamen die Fans, die direkt Gelder anboten, zum Kampf aufriefen und Spendenaktionen ins Leben rufen wollten. Die Stimmung bei dieser Pressekonferenz war einzigartig und kann nur nachvollzogen werden, wenn man vor Ort war oder sich die Pressekonferenz auf YouTube angesehen hat. Das war ein besonderer Moment. Ich saß vor meinem Schnittrechner und hatte Tränen in den Augen.

Bereits ein gutes Jahr zuvor begann meine Zeit mit den Hannover Indians. Als Angestellter des Indians-Medienpartners war ich in die Marketingaktivitäten des Vereins direkt eingebunden und habe (unter anderem) einige Filme für und mit den Indians umgesetzt. Während der Heimspiele stand ich im Sprecherturm und filmte die Spiele, was eine Auflage der Liga war. Kurz, ich kannte den „Hexenkessel“ Pferdeturm (die Spielstätte der Indians ist das Eisstadion am Pferdeturm) bereits recht gut.

Filme für die Hannover Indians

(video:

Und wie so oft, wenn mich etwas emotional berührt, versuchte ich, die Emotionen in Texten und/oder Musik zu kanalisieren. Und so schrieb ich „Hier am Turm“. Zusammen mit meinem Bandpartner und Freund Andrei entstand die Melodie und der Text. Das Lied war für mich etwas Besonderes.

Weil ich zu Hause nicht ungestört Gesang aufnehmen konnte, nahm ich die Klavieraufnahmen von Andrei und verzog mich, zwei Tage nach der Pressekonferenz, für die Aufnahmen in das Büro meines damaligen Arbeitgebers. Und kurz vor Mitternacht war unsere Demo von „Hier am Turm“ dann fertig. Ich schickte das Ergebnis meinem Chef. Auch, weil ich es toll fand, dass er mir die Räumlichkeiten zur Verfügung gestellt hatte.

Samstagmorgen, am Vormittag. Mein Telefon klingelt. Wir sitzen gerade am Frühstückstisch und am anderen Ende der Leitung habe ich einen weinenden, schluchzenden Mann. Aufgelöst stammelt er Worte in den Hörer, die ich anfangs nicht verstand. Es handelte sich um Indians-Geschäftsführer Dirk Wroblewski, der mir für das Lied dankte und mich fragte, ob wir das Lied nicht am darauffolgenden Sonntag LIVE im Stadion aufführen könnten. Zu diesem Zeitpunkt waren das Lied selbst und der Text, vermutlich auf Initiative meines Chefs, bereits auf der Indians-Website zu finden. Nach kurzer Rücksprache mit Andrei stimmten wir zu. Einen Tag später standen wir, beim nächsten Heimspiel nach der Insolvenzverkündung, auf dem Eis des Stadions.

Die LIVE-Premiere und das Video zu "Hier am Turm"

Ich erinnere mich noch sehr gut, wie ich Andrei vor diesem Auftritt warnte. „Die Fans der Indians sind nicht so offen für Neues. Mach dich darauf gefasst, dass wir nicht auf besonders viel Gegenliebe stoßen werden.“, mutmaßte ich. Zumal die musikalische Welt des Eishockeys nicht viel Platz bietet für eine getragene Klavierballade. Wir begannen, das Lied zu spielen. Aus Angst, wie so oft, meinen Text zu vergessen, hatte ich mir diesen auf einen kleinen Spickzettel geschrieben, den ich, vor meinem Einsatz, aus der Hosentasche zog. Beim ersten Refrain sang das gesamte Stadion, das mit über 6000 Menschen bis unters Dach gefüllt war, mit. Dieser Moment lässt sich nicht beschreiben. Auch heute kann ich ihm keine angemessenen Worte zuordnen. Ich weiß noch, dass ich ab diesem Moment einen Kloß im Hals hatte. Ich hatte mit „Gegenwehr“ gerechnet. Aber sicher nicht damit, dass das Stadion das Lied mit uns zusammen singt. Mehr ging/geht nicht. Das Lied wurde zur „Retter-Hymne“ und hatte sicher auch einen kleinen Anteil daran, dass die Indians, über den kommenden Sommer, gerettet werden konnten und eben nicht aus der Stadt verschwanden. „Hannover bleibt Indianerland“, heißt es auch im Text. Und so war es. Diese Rettung hatte unzählige Facetten. Nicht zuletzt, weil die Fans um ihren Verein demonstriert und gekämpft haben.

Was in den folgenden Wochen folgte, würde hier den Rahmen sprengen. Dieses Jahr sollte zu einem der schönsten und gleichzeitig schwersten meines Lebens werden. Hintereinander. Und beide Richtungen hatten mit „Hier am Turm“ zu tun. Erst war da die Euphorie. Wir traten mehrfach bei Heimspielen im Stadion auf. Ich sang die Hymne in den folgenden Wochen bei einer Beerdigung, einer Hochzeit, in einem riesigen Festzelt auf dem Hannover Schützenfest, einem Auswärtsspiel (im fremden Stadion!) in Heilbronn und im (von Indians-Fans quasi überbevölkerten) McDonalds in Kirchheim. Es waren unvorstellbar intensive Wochen und Erlebnisse, die mir niemand mehr nehmen kann. Immer mit dem Wissen, dass ALL DAS eventuell nicht reichen würde, um diesen Traditionsverein zu retten. Die Saisonabschlussparty musste im Musikzentrum Hannover stattfinden, da der Andrang für kleinere Veranstaltungsorte schlicht zu groß war. Auch dort spielten wir die Hymne mit der gesamten Band. Mit dieser Party ging die Saison offiziell zu Ende, und die Indians waren (unabhängig vom weiteren Verlauf) in die 3. Liga „zwangsabgestiegen“.

Die Hymne an verschiedenen Orten

An dieser Stelle kommt nun der Teil, der für mich eine Wende darstellte. Der aus dem wundervollen Jahr für die Band ein unschönes Jahr für mich machte. Ich habe diese Passagen jetzt mehrfach überarbeitet. Es würde jedoch immer bedeuten, in gewisser Weise „nachzutreten“. Und das fühlt sich, besonders nach so vielen Jahren, nicht richtig an. Man könnte pathetisch sagen, dass ich die Hymne (vielleicht unbewusst) „geopfert“ habe, um das „Richtige“ zu tun. Auch zehn Jahre danach fühlt sich das absolut richtig an.

Wir haben die Hymne nach diesem Sommer nie wieder live gespielt. Sie wurde einige Jahre später noch ein paar Mal vor Heimspielen im Stadion abgespielt. Und ich habe „meinen“ Turm seit diesem Sommer nur noch wenige Male besucht. Denn dieser Ort erinnert mich stets an beides - die Höhen und Tiefen. Jeder Besuch am Turm bedeutete, geliebt und gehasst zu werden. Das war und ist ein Gefühl, das stark belastet.

„Hier am Turm“ bleibt für mich ein Meilenstein. Dieses Lied ist für viele Fans untrennbar mit ihren Indians verbunden. Sie hören es im Auto, in schweren und guten Momenten, bei der Grillfeier oder als Einstimmung für das nächste Spiel. Menschen entscheiden sich bewusst, das Lied zu hören. Und sie fühlen beim Hören vielleicht immer ein wenig, was ich damals gefühlt habe, als das Lied entstand. Für einen Musiker geht nicht mehr. Das ist der Zenit. Monetär hat uns diese Hymne nie etwas eingebracht. Unterm Strich nicht einen einzigen Cent. Aber die Hymne hat mir und uns gezeigt, wo der Gipfel eines Musikers liegt. Den haben wir gesehen. Wenn das eigene Lied ein Teil des Lebens anderer Menschen wird. Wenn man durch einen Stadtteil läuft und das eigene Lied aus dem wartenden Auto an der Ampel hört. Nicht, weil es zufällig im Radio läuft, sondern weil sich der Mensch im Auto bewusst dafür entschieden hat, gerade JETZT dieses Lied zu hören. Das macht es aus. Und dass ich all das erleben durfte und darf - dafür bin ich immer dankbar.


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