Lamberts Tacheles
 

Papa Held

18. November 2023

Zwischen Freiheit und Verantwortung

Mein Papa ist ein Mann vieler Facetten. Ein Mensch, der sich zwischen seinem Freiheitsdrang und der Verantwortung als alleinerziehender Vater bewegt hat. Seine Geschichte ist geprägt von Entscheidungen, die nicht nur sein Leben, sondern auch meines tiefgreifend beeinflusst haben.

Papas Flucht aus der DDR in den frühen 1980er Jahren war mehr als nur der physische Akt des Überquerens einer Grenze. Es war der Ausdruck eines inneren Konflikts, eines Ringens mit sich selbst und den Umständen, die ihn umgaben. Er suchte nach Freiheit, nicht nur von politischer Unterdrückung, sondern auch von einem Leben, das ihm vorgezeichnet schien. Doch diese Entscheidung, die ihn in den Westen führte, war erst der Anfang einer Reihe von Herausforderungen, die ihn als Mensch prägen sollten.

Nach seiner Flucht änderte sich sein Leben schlagartig, als meine Mutter uns 1984 verließ, um eine neue Familie zu gründen. Plötzlich war mein Vater allein mit der Aufgabe, mich zu erziehen. Der Mann, der einst die Grenzen eines ganzen Landes hinter sich gelassen hatte, sah sich nun den Grenzen des Alltags als alleinerziehender Vater gegenüber.

Diese Jahre waren für uns beide eine Zeit des Lernens und Wachsens. Mein Vater, der Freiheit so sehr schätzte, fand in der Verantwortung für mich eine neue Art der Bindung. Es waren Jahre, die von kleinen Kämpfen, und der unvermeidlichen Dynamik zwischen Vater und Sohn geprägt waren. Aber ich profitierte von seiner Freiheits- und Abenteuerliebe. Weil wir Abenteuer auch zusammen erlebten. Weil ich nicht vor Medien "geparkt" wurde. Wenn mein Papa am Wochenende Zeit hatte, verbrachten wir diese oft gemeinsam und oftmals in der Natur. Dennoch war ich als Trennungskind nicht einfach zu handhaben. Wohl auch durch Verlustängste und Traumata, die durch die Trennung meiner Eltern resultierten.

1994, als ich zu meiner Mutter nach Hannover zog, öffnete sich für meinen Vater erneut das Tor zur "Freiheit". Er kaufte ein 300 Jahre altes Bauernhaus in den französischen Vogesen, ein Ort, der ihm die Möglichkeit bot, erneut auszubrechen – diesmal aus der Gesellschaft selbst. Hier schuf er sich ein Refugium, ein Leben, das von den Prinzipien der Autarkie und der Unabhängigkeit bestimmt war.

Sein Bauernhaus ist seit vielen Jahrzehnten nicht nur ein Zuhause, es ist das Symbol seiner lebenslangen Suche nach Freiheit und Selbstbestimmung. Mit jedem Balken, den er setzte, jeder Pflanze, die er zog, baute er nicht nur ein Haus, sondern auch ein Stück seiner eigenen Identität.

Mein Vater ist heute 72 Jahre alt und sein Leben ist ein Kaleidoskop aus Entscheidungen und Erfahrungen. Es ist eine Geschichte, die von der inneren Zerrissenheit zwischen persönlicher Freiheit und der Verantwortung als Vater erzählt. Es ist eine Geschichte, die mich gelehrt hat, dass das Leben aus einem ständigen Balanceakt besteht, und dass wahre Freiheit oft in der Akzeptanz und im Umgang mit unseren Verantwortungen liegt.

Unser Verhältnis ist belastet. Bis heute. Wir haben nicht den Draht zueinander, den ich mir immer gewünscht habe. Heute weiß ich, dass die Gründe dafür sehr vielschichtig sind. Er wollte nie so richtig "Papa" sein. Und doch war er es viele Jahre. Auch, weil er es sein musste. Er hat sich vor dieser Verantwortung nicht gedrückt. Heute muss er es aber nicht mehr sein. Weil ich auf eigenen Beinen stehe. Am Ende war ich aber immer der Sohn, den er eigentlich nicht wollte. Und irgendwie bin ich das bis heute eben geblieben. Umgekehrt ist das eben anders. Ich wollte nie einen anderen Papa. Ich habe immer zu ihm aufgesehen, ihn stellenweise auch regelrecht glorifiziert. Das tue ich bis heute. Er war in vielen Dingen immer Vorbild für mich. Gerade in der Freiheitsliebe. In der Abenteuerlust. Aber auch darin, Verantwortung zu übernehmen. Obwohl man selbst andere Pläne hatte.

Heute versuche ich nicht mehr, ihm eine Familie aufzuzwingen, die er nicht möchte. "Kontakt zu seinen Eltern zu halten, ist die Pflicht, die die Kindergeneration ihren Eltern gegenüber hat", schrieb er mir mal sinngemäß. Als Vater einer wunderbaren Tochter schmerzt mich dieser Satz sehr. Die Liebe zu meinem Kind wird immer größer sein als familiäre "Verpflichtungen" oder vermeintliche "Traditionen". Diese Liebe ist immer bedingungslos. Das muss sie sein.

Mein Papa lebt sein Leben nach seinen eigenen Regeln, in seinem Haus in den Vogesen, umgeben von der Natur und der Ruhe, die er immer gesucht hat. Sein Lebensweg ist ein Zeugnis dafür, dass wir manchmal ausbrechen müssen, um uns selbst zu finden, und dass die wahre Stärke in der Fähigkeit liegt, sowohl frei als auch verantwortungsvoll zu sein. Und obwohl ich das weiß und durch ihn gelernt habe, bin ich selbst nicht so gut darin.


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