Lamberts Tacheles
 

Sei ein Mensch!

01. Februar 2024

Eine Reflexion über Menschlichkeit inspiriert durch Marcel Reif

Gedenkstunde für die Opfer des Nationalsozialismus im Deutschen Bundestag am gestrigen Montag. Diese Veranstaltung findet jährlich statt, um der Millionen Menschen zu gedenken, die unter dem Nationalsozialismus litten und starben. Der Holocaust-Gedenktag, auf den diese Rede fiel, ist ein zentraler Moment des kollektiven Erinnerns, der zur Reflexion und Mahnung dient.

Marcel Reif, bekannt als Sportjournalist und Sohn eines Holocaust-Überlebenden, nutzte diese Plattform, um eine persönliche und bewegende Botschaft zu vermitteln. In seiner Rede sprach er über die Schrecken, die sein Vater überlebte, und die fortwährende Notwendigkeit, Menschlichkeit und Courage gegen das Vergessen und gegen heutigen Hass zu fördern​​.

Reif zitierte Worte seines Vaters und erinnerte daran, wie wichtig es ist, aktiv gegen Rassismus und Ungerechtigkeit zu handeln. Sein Appell „Sei ein Mensch!“ war nicht nur eine persönliche Hommage, sondern auch ein universeller Aufruf zur Menschlichkeit in einer Zeit, in der antisemitische und rassistische Tendenzen leider wieder erstarken.

Seine Rede, gespickt mit persönlichen Erinnerungen und historischem Bewusstsein, rührte viele Zuhörer zu Tränen und wurde mit minutenlangem, stehendem Applaus gewürdigt. Sie war ein kraftvolles Plädoyer für eine Gesellschaft, die aus der Geschichte lernt und sich durch aktives Erinnern und Handeln gegen das Wiederholen solcher Gräueltaten stellt. Reifs Vater Leon gab dem Sohn einen jiddischen Satz mit, der seitdem in der Familie weitergeben wird: "Sej a Mensch!". Doch was bedeutet es eigentlich, "Mensch" zu sein? Eine Frage, die mich sehr beschäftigt und die gekoppelt ist an die Frage, was eigentlich "gute" und was "böse" Menschen sind.

Was ist Menschlichkeit?

Gibt es "das Gute" und "das Böse"?

Im Lichte der erschütternden Geschichte der Schoa, stellt sich die Frage nach "Gut und Böse" als besonders schwerwiegend und komplex dar. Diese Begriffe, oft als absolute Konzepte verstanden, entpuppen sich bei näherer Betrachtung als tiefgehend subjektiv und vielschichtig. Was bedeutet es also, in dieser Welt ein Mensch zu sein?

Menschlichkeit kann als eine Reihe von Eigenschaften und Verhaltensweisen verstanden werden, die darauf abzielen, Empathie, Mitgefühl und Gerechtigkeit zu fördern. Sie umfasst die Fähigkeit, über das eigene Wohlbefinden hinaus zu denken und zu handeln, um das Leid anderer zu lindern und Ungerechtigkeiten zu bekämpfen. Dies bezieht sich nicht nur auf große Taten, sondern auch auf alltägliche Handlungen und Entscheidungen, die das Potenzial haben, das Leben anderer positiv zu beeinflussen.

Die philosophische Auseinandersetzung mit Gut und Böse zeigt, dass diese Konzepte oft durch die Linse unserer eigenen Erfahrungen, unserer Kultur und unserer persönlichen Moralvorstellungen gefärbt sind. Ein Mensch, der als "gut" betrachtet wird, handelt typischerweise in einer Weise, die als moralisch richtig, gerecht und wohlwollend angesehen wird. Doch diese Bewertungen sind häufig situativ und können je nach Kontext variieren.

In Bezug auf die Shoa wird deutlich, wie das Schweigen und Wegschauen der Gesellschaft, wie von Marcel Reif in seiner Rede erwähnt, zum extremsten Bösen beitragen kann. Die Lehre daraus ist, dass Menschlichkeit auch die Verantwortung mit sich bringt, sich zu äußern und zu handeln, wenn Unrecht geschieht. "Wer schweigt, macht sich mitschuldig", wie es die Holocaust-Überlebende Eva Szepesi formulierte.

Ein "guter" Mensch zu sein könnte also bedeuten, aktiv gegen Ungerechtigkeit und Leid einzutreten, auch wenn es unbequem ist oder persönliche Opfer fordert. Dies führt uns zu einer weiterführenden Frage: Können Menschen, die sich selbst als Narzissten oder Egoisten erkennen, trotzdem wahre Menschlichkeit zeigen? Die Antwort ist nicht einfach, denn auch diese Individuen haben die Fähigkeit zur Veränderung und können lernen, emphatischer und mitfühlender zu handeln.

Die wahre Herausforderung der Menschlichkeit liegt vielleicht darin, unsere eigenen Grenzen zu erkennen und zu überwinden, um eine inklusivere und gerechtere Welt zu schaffen. In diesem Sinne ist Menschlichkeit ein ständiger Prozess des Lernens, Verstehens und Handelns, der von jedem Einzelnen Engagement und Reflexion verlangt.

Ich bin ein guter Mensch!?

Und was ist mit mir persönlich? Als Waage bin ich geprägt von einem ausgeprägten Gerechtigkeitssinn und einer tiefen Sehnsucht nach Harmonie. Ich strebe danach, von allen gemocht zu werden, und bemühe mich, jedem gerecht zu werden und Regeln sowie Gesetze zu befolgen.

Mein Verlangen nach Harmonie führt dazu, dass ich oft bereit bin, auf meine eigenen Rechte oder Wünsche zu verzichten, um Konflikte zu vermeiden. Dabei versuche ich stets, Situationen aus der Perspektive anderer zu sehen und jedem die gleiche Chance zu geben, mich zu überzeugen. Trotz dieser Bemühungen erkenne ich meine Grenzen an. Ich bin kein Held und würde in gefährlichen Situationen wahrscheinlich zögern, direkt einzugreifen, würde aber Hilfe holen.

Ein Aspekt meiner Persönlichkeit, den ich kritisch sehe, ist meine Neigung, nachtragend zu sein. Ist das Vertrauen einmal gebrochen, fällt es mir schwer, dieses wiederherzustellen. Auch wenn ich für Entschuldigungen offen bin, ist Vergebung ein Prozess, der mir nicht leichtfällt. Diese Schwäche konfrontiert mich mit der Frage, was es wirklich bedeutet, menschlich zu sein. Die Tatsache, dass auch ich Fehler mache und manchmal in meinen eigenen Ansprüchen scheitere, macht mich keineswegs weniger menschlich. Vielmehr zeigt es die Komplexität dessen, was es bedeutet, ein Mensch zu sein.

Abschließend möchte ich betonen, dass jeder von uns die Möglichkeit hat, an sich zu arbeiten, sich ständig zu hinterfragen und sein Verhalten täglich neu zu bewerten. Menschlichkeit ist ein fortwährender Prozess, keine endgültige Bestimmung. In diesem Sinne möchte ich diesen Artikel mit den Worten abschließen, die Marcel Reif von seinem Vater übernommen und uns überlassen hat: "Sej a Mensch!" – eine Aufforderung, die uns alle dazu einlädt, jeden Tag aufs Neue unser Bestes zu geben, um wahrhaft menschlich zu sein.


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