Lamberts Tacheles
 

Tschüss, Mama & Papa

12. März 2020

Wie ein gesellschaftliches Tabu Biografien zerstört

1980 bis 1994 - Ost-West-Familie

Ein Winterabend im Dezember 2008: Nur eine kleine, spartanische Lampe erleuchtet den Raum der Geburtsstation. Ich sitze auf einem Stuhl in der Ecke, halte diesen kleinen, wunderbaren Menschen im Arm. Es ist still, und ich bin mit meiner Tochter ganz allein. Tränen rinnen mir über das Gesicht, während ich unentwegt in das noch leicht zerknitterte Gesicht mit der schiefen Nase blicke. Sie ist erst seit wenigen Minuten auf der Welt. Das Gefühl, das ich in diesem Moment hatte, ist einzigartig: Eine Melange aus Stolz, tiefer Liebe, Freude, Glück und auch Frieden. Alles ist plötzlich unwichtig – nur meine Tochter und ich zählen. Geweint habe ich jedoch auch, weil mir schlagartig klar wurde, wie wundervoll es sein muss, ein Wunschkind zu sein; diese Liebe zwischen einem Elternteil und seinem Kind, die alles übersteht, alles relativiert und vor allem immer bedingungslos ist.

Für meine Eltern war ich kein Wunschkind. Ich bin „passiert“, und meine Eltern heirateten dann, weil man das in der DDR der Achtziger „eben so machte“. Wir lebten in der Dresdner Neustadt, Louisenstraße. Heute ist die gesamte Gegend ein Szeneviertel. Damals jedoch war sie heruntergekommen, und die maroden, leerstehenden Nachkriegsgebäude waren froh, wenn sich jemand um sie kümmerte – geduldete „Hausbesetzung“ quasi. Ich war noch keine zwei Jahre alt, als mein Vater die Flucht in den Westen wagte, unter Einsatz seines Lebens, sicher auch für meine Mutter und mich.

Ein Jahr nach seiner erfolgreichen Flucht durften auch wir in den Westen ausreisen. Nun lebten wir in Ulm an der Donau. Meine Erinnerungen an diese Zeit sind spärlich. 1984 trennten sich meine Eltern. Über zehn Jahre lang blieb ich bei meinem Vater, während sich meine Mutter in Hannover eine neue Familie aufbaute.

Es gehört wohl zur typischen Biografie von Trennungskindern, dass der Elternteil „hip“ erscheint, bei dem man den Alltag nicht verbringt. In meinem Fall war dies jedoch deutlich extremer, was der Tatsache geschuldet ist, dass meine Eltern unterschiedlicher nicht sein könnten.

Der eine Elternteil lehnte Konsum ab, lebte eine „alternative Lebensform“ und holte sich die meisten Dinge des täglichen Bedarfs vom Sperrmüll – wieso neu kaufen, wenn das Weggeworfene gut genug ist? Ein Fernsehgerät war zwar vorhanden, diente jedoch fast ausschließlich dazu, täglich um 19 Uhr die „heute“-Sendung im ZDF zu sehen.

Der andere Teil meines getrennten Elternduos verkörperte quasi das andere Ende der sehr langen Fahnenstange: Konsum gehörte zum Alltag. Das Essen kam vom Eismann, Urlaube wurden im dänischen Ferienhaus verbracht, wir wohnten in einer wunderschönen Stadtwohnung, und uns Kindern fehlte es eigentlich an nichts. Einmal im Jahr ging es mit der gesamten Familie in den Freizeitpark, und auch sonst war für allerlei Freizeitaktivitäten gesorgt.

Beide Modelle möchte ich hier nicht werten, denn genau diese Diskrepanz der beiden „Welten“ sollte später noch ein ernsthaftes Problem darstellen.

Das Leben bei meinem Vater empfand ich damals als ein Leben des Mangels. Ich war Außenseiter in der Schule. Wenn morgens über die neue Folge der „Mini Playback Show“ gesprochen wurde, konnte ich nur mit meiner Tintenpatrone, die ich in der Erde der obligatorischen, meist welken Klassenzimmerpflanze entsorgte, Aufmerksamkeit erregen. ICH hatte die Sendung nicht gesehen. Und während über die neueste Lovestory in der „BRAVO“ diskutiert wurde, musste ich nachsitzen, weil ich wiederholt den Unterricht gestört hatte. Meine Kleidung bedeckte meinen Körper ausreichend, entsprach aber nicht den aktuellen „Trends“. Meinem Papa waren solche Oberflächlichkeiten nie wichtig – warum sollte er also bei mir damit anfangen?

Mein Papa war alleinerziehend, mit mir, einem „Trennungskind“ aus dem Bilderbuch. Jede seiner „Bekanntschaften“ vertrieb ich erfolgreich aus dem Haus. „AD(H)S“ gab es damals noch nicht – und wenn doch, dann wäre ich wohl ein Lehrbuch-Exemplar gewesen. Mein Papa war schon immer Abenteurer, als junger Mann und eben auch als Papa mittleren Alters. Er ließ sich von niemandem vorschreiben, was er zu tun und zu lassen hatte; er war (und ist) unkonventionell. Wir fuhren mit dem Jeep nach Kroatien, Jugoslawien, Italien oder Ungarn, fuhren mit dem Schlauchboot die Donau hinunter, schliefen in Zelten und Höhlen, kletterten in der Schwäbischen Alb, und ich lernte Schwimmen in den kalten Wellen des Balaton. Was ich heute zu schätzen weiß, erschien mir damals als „nicht gut genug“. Das Leben bei meiner Mutter – DAS war das „wahre“ Glück. Sie hatte wieder geheiratet, zwei Kinder bekommen, lebte jetzt im großen Hannover. Für ein Kind aus Ulm wirkte Hannover wie eine Metropole. Dort gab es sogar eine U-Bahn – Großstadt eben. Fernsehen konnte ich dort, wann immer ich wollte, oder Playstation spielen. In den Ferien war ich der „große Bruder“ meiner beiden Halbgeschwister. Durch meine kindlichen Augen war dieses Leben mein Ziel. DAS wollte ich auch.

Die Pubertät nahte. Mein Papa hatte sich in den Kopf gesetzt, jetzt, wo er 40 Jahre alt wurde, die aktuelle Partnerin zu behalten – um jeden Preis. Anfangs versuchte ich noch, mit den immer wieder bewährten Methoden, gegen diesen weiblichen „Eindringling“ zu kämpfen, und gab schließlich auf. Inge (ich habe den Namen sicherheitshalber geändert) war ja auch eigentlich wundervoll. Sie akzeptierte und förderte mich. Und ich kannte sie gut – war sie doch die Stiefmutter meines damals besten (und beinahe einzigen) Freundes. Und auch wenn ich sie akzeptierte, wurden die Konflikte mit meinem Vater immer größer. Er stellte mich schlussendlich vor die Wahl: „Internat oder zu deiner Mutter?“ Zusammen mit ihm schaute ich mir anschließend zahlreiche Internate an. Und die Auswahl war bemerkenswert. Trotzdem war der Ruf nach dem „Paradies“ lauter. Ich wollte zu meiner Mutter nach Hannover. Und so zog ich in den Sommerferien 1994 zu meiner Mutter und damit zu meiner „neuen“ Familie.

1994 bis 1998 - Manchmal kommt es anders...

Wir lebten in der großzügigen Wohnung einer Stadtvilla am Waldrand. Vorerst teilte ich mir ein Zimmer mit meiner sechs Jahre jüngeren Schwester. Später wurde ein Zimmer im Dachgeschoss frei, und ich bekam sogar mein „eigenes“ Reich. Alles war idyllisch. Aus meinem Zimmer blickte ich direkt in den Stadtwald; sogar mein Schlagzeug und ein alter, massiver Holzschreibtisch fanden Platz in meinem Jugendrefugium. Meine Freizeit verbrachte ich mit dem Drehen von Filmen, Musikmachen und in den Straßen der „Metropole“ Hannover.

Der familiäre Alltag war durchaus schwierig. Immer wieder kam es zu kleineren Konflikten mit meiner Halbschwester, die einen riesigen Gefallen darin fand, mich wegen jeder sich bietenden Kleinigkeit zu „verpetzen“. Natürlich klappte dieses Vorhaben hervorragend, und so kam es auch zwischen dem pubertierenden Ich und meiner Mutter immer wieder zu ordentlichen Konflikten. Gleichzeitig tat ich alles, um in dieser Familie endlich „ankommen“ zu dürfen und nicht nur „Gast“ zu sein. Meine eigenen Bedürfnisse stellte ich eher hinten an, was der gesunden Entwicklung in der Pubertät eigentlich widerspricht. Dieses Verhalten sollte sich aber manifestieren.

Mit 17 Jahren zog ich dann von zu Hause aus. Das ist milde formuliert, denn eigentlich verließ ich, nach einem Streit mit meiner Mutter, das Haus mit dem Nötigsten und kam für einige Wochen bei einem Schulfreund unter. Das Verhältnis zu meiner Mutter normalisierte sich in den folgenden Monaten wieder etwas, und wir akzeptierten wohl beide, dass mein Leben ab diesem Zeitpunkt nicht mehr „zu Hause“ stattfand.

Und gleichzeitig war da ja eigentlich noch mein Vater. Eigentlich, weil der Kontakt mit meinem Umzug 1994 weniger wurde, dann nicht mehr vorhanden war und später in blanken Hass umschlug. Mit 18 Jahren verklagte ich meinen Vater auf Unterhalt. Um zu erklären, wie es dazu kam, muss man wohl etwas weiter ausholen...

Die Eltern-Kind-Entfremdung

Vorweg ist es wichtig zu verstehen, dass es bei diesem Phänomen nur Opfer gibt und (aus meiner Sicht) keine wirklichen „Täter“. Die Eltern-Kind-Entfremdung „passiert“ einfach, und ich glaube nicht daran, dass Menschen diesen harten, seelischen Kindesmissbrauch wirklich bewusst und wissend planen und umsetzen. Alles beginnt mit der sogenannten „Wohlverhaltensklausel“ im Familienrecht. Das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) sagt dazu in § 1684 Absatz 2: „Die Eltern haben alles zu unterlassen, was das Verhältnis des Kindes zum jeweils anderen Elternteil beeinträchtigt oder die Erziehung erschwert. Entsprechendes gilt, wenn sich das Kind in der Obhut einer anderen Person befindet.“

Eigentlich ist damit alles gesagt. In der Praxis gibt es jedoch die sogenannte Eltern-Kind-Entfremdung, bei der sich ein Elternteil eben NICHT an diese Klausel hält. Ganz im Gegenteil. Es wird (immer vor den Kindern) gelästert und sich echauffiert, bis sich die Balken biegen. Es wird manipuliert und beeinflusst. Und das geschieht immer auf dem Rücken von Menschen, die in ihre Eltern ein Urvertrauen setzen. Doch die Abwesenheit des entfremdeten Ex-Partners wird für die Kinder zum Teufelskreis. Das Verhältnis zwischen Kindern und Eltern wird nachhaltig und schwer zerstört und kann nur in sehr wenigen Fällen jemals wieder aufgebaut werden. Das ist die bittere Wahrheit. Die Eltern-Kind-Entfremdung geschieht jeden Tag, überall. Und das Phänomen ist noch immer nahezu unbekannt. Meine Mutter hat nicht nur meinen Vater, sondern auch den Vater meiner Halbgeschwister entfremdet. Als ich irgendwann auf eigenen Beinen stand und versuchte, mein eigenes Leben aufzubauen, habe ich diesen Umstand reflektiert und dann über 20 Jahre versucht, das Geschehene rückgängig zu machen – mal mit mehr, mal mit weniger Erfolg. Der Kontakt zu meinem Vater wurde mal etwas besser, dann wieder belasteter und ist heute im Grunde nicht mehr wirklich vorhanden. Weil ich inzwischen aufgegeben habe und nicht mehr um seine Gunst kämpfen kann und will. Auch ich bin ein wertvoller Mensch, und wenn man die eigenen Eltern davon sein Leben lang überzeugen muss, zehrt das an Kräften, die mir nicht mehr zur Verfügung stehen.

Auch der Kontakt zu meiner Mutter ist nicht mehr vorhanden, aus eigenem Antrieb. Ich konnte und kann ihr die vielfachen Manipulationen nicht verzeihen. So sehr ich es auch streckenweise versucht habe, angetrieben durch die immer gleichen Vorwürfe: „Aber es ist doch deine Mutter?“... Was bedeutet das? Mein Vater sagte mal einen Satz, der mich nachhaltig prägte: „Kinder müssen den Kontakt zu ihren Eltern pflegen! Das ist die Pflicht der Kinder ihren Eltern gegenüber.“ Dieser Satz hallt nach, und das tut er bis heute. Wann immer ich an diesen Satz denke, denke ich an dieses kleine, wundervolle, schrumpelige Wesen, das ich im Dezember 2008 im Arm hielt und mit meinen Tränen benetzte. Weil ich glücklich war. Und weil ich tief geliebt habe und das jeden Tag aufs Neue tue. Egal, was sie sagt. Egal, wie sie sich verhält. Egal, ob sie sich meldet oder nicht. Diese Liebe ist bedingungslos.

Diese bedingungslose Liebe habe ich auch mein Leben lang gesucht. Nur die. Keine materiellen Dinge, keine Ausflüge auf der Donau und keine Familienwanderungen durch den Harz. Bedingungslose Liebe. Mehr braucht es nicht.

Tschüss, Mama & Papa...


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