Lamberts Tacheles
 

Veganer beim Schlachter

21. Juni 2023

Dieses „Web 2.0“ ist vollständig eskaliert. Die Grundidee von „mitmachen statt nur konsumieren“ ist aus den Fugen geraten. Jede Gudrun hat einen eigenen Podcast, jeder Franz-Willi streamt auf Twitch und auch der YouTube-Kanal von Brigitte, in dem sie Rezepte ihrer selbstgezüchteten Avocado-Bärlauch-Kreuzung vorstellt, erfreut sich einer wachsenden Zuschauerschaft. Und da sind wir noch nicht bei Lena-Larissa, die jetzt auf TikTok als Intimrasur-Influencerin durchstartet. Kurz gesagt, das „Web 2.0“ hat sich selbst ad absurdum geführt. Es wirkt, als würden inzwischen mehr Menschen mitmachen als konsumieren. Oder sind diejenigen, die konsumieren, gleichzeitig die, die mitmachen? Es wird unübersichtlich.

Blicken wir zurück in eine Zeit vor Smartphone, Internetzugang und Social Media. Damals, in den Neunzigern, konnte man seine Unterhaltung nicht mit sich herumtragen. Die Unterhaltung kam aus dem Radiogerät, dem Fernseher oder aus dem eigenen, kreativen Erfindergeist. Man kann sich das heute kaum noch vorstellen… War einem damals langweilig (und das kam selten vor), hat man Brettspiele gespielt, gepuzzelt, ein Buch gelesen oder sich mit Freunden getroffen. In „Echtzeit“. Offline. Man konnte Konflikte nicht per WhatsApp lösen, sondern musste miteinander sprechen. Alles musste selbst und im Moment „geregelt“ werden. Hilfe per Messenger war nicht möglich. Man war auf sich allein gestellt - und bekam es immer hin. Vielleicht liest man aus diesen Sätzen eine gewisse Wertung heraus. Aktuell möchte ich allerdings noch als neutral wahrgenommen werden. Trotzdem ist es wichtig, auf diese Zeit zurückzublicken, um zu verstehen, was heute anders ist.

2007 kam das Smartphone. Steve Jobs stellte das „iPhone“ vor und es war eine Revolution. Ein Meilenstein. Zwar gab es schon Anfang der neunziger Jahre „Personal Communicator“, aber mit dem iPhone wurde das Smartphone zum ersten Mal Massenware. Bis zu diesem Zeitpunkt waren „Handys“ zum Telefonieren und zum Kommunizieren per (kostenpflichtiger) SMS da. „Snake“ konnte man noch spielen. Mit dem iPhone wurde das „Handy“ zum Alleskönner.

Hatten im Januar 2009 noch etwa 6 Millionen Menschen ein Smartphone, waren es im Jahr 2021 bereits rund 63 Millionen. Sagenhafte 95% der 13-15-jährigen Kinder besitzen ein Smartphone. Behält man diese Zahlen im Hinterkopf und denkt dann an die fehlende Medienkompetenz, ergeben sich daraus schlüssige Nebeneffekte. Im Jahr 2017 wurden bei mehr als einem Viertel aller Kinder und Jugendlichen psychische Störungen oder Verhaltensauffälligkeiten dokumentiert. Und wenn wir ehrlich sind, müssen wir nur unsere eigenen Kinder beobachten. Sicher ist das Smartphone und die übermäßige Mediennutzung nicht das alleinige Problem. Sicher aber ein großer Baustein. Dazu kommen Eltern, die ihre Kinder „überbeschützen“, die ihnen alles abnehmen, die 24h am Tag „da“ sind. Weil sie es gut meinen und nichts „falsch“ machen wollen. Es entsteht langsam und nahezu unbemerkt ein Strudel, der diese Generation entscheidend prägt.

Diese „Generation todeslost“, wie ich sie liebevoll nenne, scheint überbehütet zu sein. Das starke Selbstwertgefühl eines heranwachsenden Menschen kann nur entstehen, wenn er Hürden überwindet. Wenn er Probleme löst. Wenn er lernt, durch eigenes Denken und Kombinieren, ein Ziel zu erreichen. Diese Möglichkeiten werden dieser Generation genommen. Und die Gründe dafür sind vielfältig. Den Mangel an Selbstwert holen sie sich in den Sozialen Medien. In Likes, Shares und Views. Dort glauben sie, ihren Wert zu erkennen. Und es beginnt ein perverses Spiel nach Reichweite, Relevanz und „Sichtbarkeit“.

„Sichtbarkeit“ ist ein gutes Stichwort. „Wer sich als Firma Social Media verweigert, wird am Markt nicht mehr lange bestehen“, hauchte mir ein Experte mal in mein Mikrofon. Reichte früher ein Eintrag in den „Gelben Seiten“ und eine flotte Visitenkarte, müssen Unternehmen heute omnipräsent sein. Mit Website, Social Media-Aktivitäten, Google-Einträgen, guten Quoten auf Bewertungsportalen. Wer „sichtbar“ ist, ist relevant und wer relevant ist, macht Umsatz!

"Was macht der Typ eigentlich beruflich?", mag man sich da draußen vielleicht fragen. Nun… Ich bin „Content Creator“. An dieser Stelle lasse ich die Lachsalven kurz verklingen und warte, bis das Schlagzeug den Tusch zur Pointe fertig gespielt hat. Ich bin ein entscheidender Teil des Problems. Meine Aufgabe ist es, meinen Arbeitgeber „sichtbar“ zu machen. Diese Aufgabe erfülle ich, so denke ich, sehr gut. Und ich bin glücklich in „meiner“ Firma. Mit meinem Chef, meinen Kolleginnen und Kollegen. Alles ist wundervoll. Aber ich bin ein Veganer beim Schlachter. Jeden neuen Tag. Obwohl ich weiß, dass dieser Weg falsch ist, muss er gegangen werden. Weil alle diesen Weg gehen. Es ist ein wenig wie bei der Tour de France. Wenn alle Doping betreiben, kannst du nur gewinnen, wenn du selbst dopst. Tust du es nicht, wirst du gnadenlos abgehängt.

Aber warum diese negative Grundhaltung? Diese Ablehnung? Kann nicht jeder tun, was er möchte? Absolut. Ich habe selbst einen YouTube-Kanal, einen Twitch-Kanal, bin bei Instagram und Facebook und ich kann diese Aktivitäten nicht ausschließlich damit entschuldigen, dass ich sie beruflich nutzen MUSS. Auch ich selbst habe dort Anerkennung gesucht. Und tue es in Teilen noch immer. Aber ich hinterfrage dieses System und mich selbst auch. Ständig. Und ich lasse Dinge sein, wenn sie sich nicht mehr richtig anfühlen. Dieser Blog zum Beispiel. Er lag jahrelang brach. Jetzt lasse ich ihn gerade wieder aufleben. Ohne Likes, Shares und Views. Es gibt auch keine Kommentarfunktion. Meine Gedanken sind „online“ und ob sie jemand liest oder nicht, bekomme ich nicht mit. Das fühlt sich gut an. So soll es eigentlich sein.

Die Social Media-Welt ist toxisch. Sie zeigt die „guten Seiten“ und ermöglicht es, dass man selbst entscheiden kann, was man präsentiert und was nicht. Selbst „authentische“ Kanäle entscheiden, welche „reale“ Story sie teilen und welche nicht. Ich habe selbst über meine privaten Kanäle viel „Content“ gemacht und war mir dabei immer auch bewusst, wie dieser Content Menschen runterziehen kann und wird. „Schau mal, was DER Tolles erlebt. Und ich?“. Und das gilt im geschäftlichen Umfeld ebenso. Man sieht die Firmen, die besser performen, besser bewertet sind und die mehr Klicks und Likes haben. Dazwischen kommt Werbung von „Coaches“, die einem zeigen wollen, wo man das nächste große Geld absahnen kann. Und sie helfen dir! Wenn du zu ihrem kostenlosen Kurs kommst oder ihr kostenloses Buch bestellst. Das „Web 2.0“ ist eskaliert, weil alle „Creator“ sind. Privat oder beruflich. Und weil diese toxische Welt jeden von uns beeinflusst und verändert.

„Das Dilemma mit den sozialen Medien“, eine Dokumentation aus dem Jahr 2020, hat mich verändert und meine Mediennutzung auf den Kopf gestellt. Mein Smartphone ist ein Werkzeug. ICH alleine entscheide, wann ich es benutze. Es ist 24h am Tag lautlos, im „Nicht stören“-Modus und nur die wichtigsten beiden Menschen in meinem Leben sind von diesem Modus ausgenommen. Mein Smartphone liegt immer auf dem Display. Bei Whatsapp sind sämtliche Chats „archiviert“. Aktiv und für mich direkt sichtbar sind die Chats mit meiner Tochter, meiner Lebensgefährtin und unserer gemeinsamen Gruppe. Nicht mehr. Es ist eine gewisse Umgewöhnung am Anfang. Aber es geht und man fühlt sich frei - versprochen.

Wir müssen das irgendwie in den Griff bekommen. Schon für unsere Kinder. Denn wir züchten uns längst eine verlorene Generation heran, die kaum selbständig denken und handeln kann. Und die Gefahren, die dieser Umstand in der Zukunft mit sich bringen kann, sind groß. Fangen wir bei uns selbst an. Machen wir den Unterschied. Denn das „Web 2.0“ war mal eine tolle Idee.


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